Ohrenzeugin

Kirche in WDR3 | 23.03.2024 | 00:00 Uhr

Guten

Morgen,

schon

ewig lag sie da im Archiv des Ägyptischen Museums in Bonn: die unscheinbare

Kalksteinplatte. Alfred Wiedemann, der Gründer der Sammlung, hatte sie im

heutigen Luxor – dem altägyptischen Theben – von einem Händler gekauft. Vor

allem, wegen der Vorderseite. Darauf ist eine typische Darstellung der so genannten

Thebanischen Dreiheit zu sehen. Das sind die wichtigsten Götter, die in Theben vor

mehr als 3000 Jahren verehrt wurden, Amun, der Schöpfer, sein Sohn Chons und

die löwenköpfige Mut, die Muttergottheit. Bloß, dass die auf dieser Platte vorne

gar nicht mit drauf ist. Dafür ist der Pharao zu sehen, der sich den Göttern

nähert.

Wahrscheinlich

ein Entwurf von einem Bildhauer, so dachten die Forscher. Zumal auf der

Rückseite in den sonst ganz rohen Stein noch zwei kleine menschliche Ohren

graviert waren. Vielleicht auch Übungsversuche des Künstlers? Echte Künstler

fangen eben auch klein an und müssen irgendwo mal üben.

Nach

über einhundert Jahren aber hat jemand im Rahmen eines Forschungsprojektes genauer

hingesehen.

Und

wirklich ist ja weniger manchmal mehr. So wie auf der Rückseite dieser

Steintafel. Denn die Forscher fanden im groben Naturstein noch ein weiteres,

ein drittes kleines eingraviertes Menschenohr, und außerdem – ganz natürlich in

die Maserung des Steins eingearbeitet – auch den Kopf einer Löwin – das Symbol

der Göttin Mut, die vorne fehlte. Und wer noch näher hinsieht, meint, dass

dieses dritte Menschenohr zugleich das Ohr der Göttin ist.

Kein

Übungsstück also, das halb fertig liegen gelassen wurde, sondern ein

Meisterwerk. (1) Und obendrein eines, – so die Forscher – das zwei Seiten einer

Medaille zeigt: Vorne drauf die offizielle Theologie – also der Pharao, der den

Göttern Amun und Chons opfert. Und auf der Rückseite der persönliche Glaube:

Der Mensch, der zur löwenköpfigen Göttin Mut betet – die mit ihrer Kraft und

Stärke Schutz verspricht.

Dreitausendzweihundert

Jahre alt ist diese Tafel und so weit weg. So weit weg wie meine Vorstellungen

von Gott und der Welt, von denen der ägyptischen Künstler und Theologen sind.

Und ich ahne, wir würden uns kaum einig werden an der Oberfläche unserer

Religion und unseres Glaubens.

Oder

sollte ich vielleicht besser sagen, auf der Vorderseite? Die Rückseite nämlich

so grob und unscheinbar sie auf den ersten Blick aussieht, berührt mich. Und

mit den drei Menschenohren und der Gottheit, die sich eines der Menschenohren

leiht, da spricht sie mich an und erzählt auch von meinem Beten. Von meiner

Hoffnung und meinem manchmal festen, manchmal auch schwankenden Vertrauen, dass

Himmel und Erde nicht taub sind für mein Bitten und für das aller Welt.

Und

mir fällt ein Satz aus der Bibel ein, über den ich wohl schnell einig würde –

nicht nur mit alten Ägyptern:

„Der

das Ohr geschaffen hat, sollte der nicht hören?“ (Psalm 94,9)

Merkwürdig

wie mich ein Stück Stein über dreitausend Jahre und hinweg mit einem anderen

Menschen verbindet. Und noch viel merkwürdiger, dass oft so viel Streit und

Uneinigkeit ist zwischen den Religionen.

Einen

aufmerksamen Tag wünscht Ihnen

Ihr

Jan-Dirk Döhling aus Bielefeld.

(1)

https://www.uni-bonn.de/de/neues/152-2022 (abgerufen 04.03.24)

https://idw-online.de/de/news814080 (abgerufen 05.03.24)

Redaktion:

Landespfarrerin

Petra Schulze

https://www.kirche-im-wdr.de/uploads/tx_krrprogram/63592_WDR35240323Doehling.mp3

  • 23.3.2024
  • Jan-Dirk Döhling
  • cco pixabay
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