Komm rüber!

Das geistliche Wort | 25.02.2024 | 00:00 Uhr

Autorin: Manchmal meldet sich Herr

Ruppert per Mail bei mir. Telefonieren kann er nicht. Er ist fast taub. “Ich

wünsche Ihnen und Ihrer Familie ein frohes Weihnachtsfest!” Die Mail mit den

Weihnachtsgrüßen schreibt er am 29. Oktober. Ich schreibe zurück: „Warum so

frühe Weihnachtswünsche? Alles ok?“ – Und bekomme postwendend die Antwort: „Ich

bin so einsam.“

Es erschüttert mich, dass jemand so einsam ist, dass

er schon Ende Oktober Weihnachtswünsche verschickt. Dann denke ich aber auch:

Eigentlich ganz klug. Denn die Wahrscheinlichkeit ist doch sehr hoch, dass Herr

Ruppert so viel mehr Reaktionen bekommt als im Dezember. Weihnachtswünsche im

Oktober zu verschicken, ist vielleicht ein gutes Mittel gegen Einsamkeit.

Einsamkeit

kann als ein unangenehmes Gefühl beschrieben werden, das auftritt, wenn die

aktuell bestehenden Beziehungen nicht den gewünschten sozialen Beziehungen

entsprechen. Umfassende Umfragen der letzten Jahre legen nahe, dass ungefähr

jede zehnte in Deutschland lebende Person sich oft oder sehr oft einsam fühlt.

Waren es vor der Coronapandemie vor allem Menschen im hohen Alter, hat sich das

gesamtgesellschaftliche Bild in den letzten Jahren verändert. In und nach der

Pandemie ist vor allem die Zahl der jungen Menschen, die über Einsamkeit klagen,

deutlich gestiegen.

Nicht alle, die allein sind, sind einsam. Manche leben

sehr bewusst allein. Tun Dinge lieber ganz für sich, beschränken sich auf

wenige Kontakte zu anderen und fühlen sich wohl damit. Wenn Menschen aber

anfangen unter dem Alleinsein zu leiden, dann ist es gut, nach Kontakt zu

suchen. So wie es Herr Ruppert macht.

Musik 1: So lonely

Interpret: Jorja Smith, Album: Project 11, Label: Famm; LC: 57513

1:43-3:02 = 1:19

Sprecher: Es

war einmal ein arm Kind und hat kein Vater und kei Mutter, war Alles tot und

war Niemand mehr auf der Welt. Alles tot, und es ist hingangen und hat gerrt

Tag und Nacht. Und wie auf der Erd Niemand mehr war, wollt’s in Himmel gehn,

und der Mond guckt es so freundlich an und wie’s endlich zum Mond kam, war’s

ein Stück faul Holz und da ist es zur Sonn gangen und wie’s zur Sonn kam, war’s

ein verwelkt Sonneblum und wie’s zu den Sterne kam, warn’s klei golde Mücke,

die warn angesteckt wie der Neuntöter sie auf die Schlehe steckt, und wie’s

wieder auf die Erd wollt, war die Erd ein umgestürzter Hafen und war ganz

allein und da hat sich’s hingesetzt und gerrt und da sitzt‘ es noch und ist

ganz allein.(Georg Büchner: Woyzeck, 19. Szene)

Autorin: Es ist ein sehr finsteres

Märchen, das die Großmutter den Kindern in Georg Büchners „Woyzeck“ vorliest. Der Einsamkeit ist nicht zu entkommen. Egal an wen das

Kind sich wendet, Menschen oder Himmelswesen, immer scheitert die Begegnung und

das Kind bleibt einsam zurück.

Einsam zu sein, das kann ein schrecklich jämmerliches

Gefühl sein. Für viele ist das zum Weinen. Zum Hinsetzen – und am liebsten nie

wieder aufstehen wollen. Total niederdrückend und dunkel ist dann die

Einsamkeit. In Psalm 102 klagt der Betende Gott seine Einsamkeit:

Sprecher:

Ich bin wie eine Eule in der Wüste,

wie ein Käuzchen in zerstörten Städten.

Ich wache und klage

wie ein einsamer Vogel auf dem Dach.

Autorin: Einsam zu sein, das kann ein

schrecklich jämmerliches Gefühl sein.

Dabei klingt in der ursprünglichen

Bedeutung des Wortes auch Positives an. "Einsam" ist eine

frühneuhochdeutsche Ableitung zum mittelhochdeutschen Zählwort "ein"

und bedeutet ursprünglich "allein" im Sinne von "alleinig"

– also: einmalig und besonders, unverwechselbar. Diese Dimension der Einsamkeit

ist in unserer Gesellschaft eigentlich positiv besetzt, bewahrt uns aber

offensichtlich nicht vor dem Gefühl: Ich bin einsam. Vielleicht sind viele gerade

deshalb heute einsamer denn je, weil alle so sehr darum bemüht sind, einmalig

zu sein. Wenn überhaupt mischt man sich doch nur mit seinesgleichen. Und wenn

das, was ich mit anderen gemeinsam habe neben meiner Einmaligkeit keinen Wert

mehr hat, dann bin ich schnell einsam.

Musik 1

5:17-6:38 = 1:21

Autorin: Heiligabend verabschiede ich

mich an der Kirchentür auch von Frau Sonnborn. Während die meisten sich

familienweise an mir vorbei schieben, steht sie allein vor mir. „Ich bin heute

Abend allein. Das wollte ich so.“ – antwortet sie lächelnd auf meinen fragenden

Blick und entschwindet mit ihrem Rollator in die heiligabendliche Dunkelheit.

Ich schaue ihr kurz hinterher, bis sich die nächste Großfamilie in meinen Blick

schiebt. Und in Gedanken begleitet mich die kurze Szene noch lange. Wie schafft

die alte Dame das? Gut allein sein zu können? Ich hätte gerne ihr Rezept. Alleinsein

heißt nicht immer einsam sein.

Alleinsein kann auch als positiv

empfunden werden: Es gibt Menschen, die sind gern allein, vielleicht auch, weil

sie sich mit anderen im Herzen tief verbunden wissen, ohne das jeden Tag

erleben zu müssen. Weil es immer wieder mal die Erfahrung von „Gemeinsam“ gibt,

so dass sie das Alleinsein nicht so schnell mit einem Gefühl von Mangel

verbinden.

Frau Sonnborn kommt seit 30 Jahren

jede Woche in den Seniorenkreis der Kirchengemeinde. Jeden Morgen schiebt sie

mit ihrem Rollator einmal quer durch den Ort zu Edeka. Und jeden Abend ruft die

Tochter kurz durch. Und wenn sie zu Bett geht, redet sie kurz mit Gott: Müde

bin ich, geh zu Ruh. Das reicht Frau Sonnborn. Ja, sie ist viel allein. Aber

nicht einsam.

„Willst du einen Drücker, Mama?“ Diese Frage meines

Sohnes überrascht mich meist in Momenten, in denen ich mit meinen Gedanken

woanders bin. Kurz rausgezoomt aus der familiären Gemeinschaft, innerlich

woanders. Seit Jahren holt er mich mit dieser Frage immer wieder zurück. Und

ich nehme sein Angebot, mich fest drücken zu lassen, gerne an. Ein gutes Gefühl

ist das, wenn mein Sohn mich fest drückt. Mittlerweile ist er mir über den Kopf

gewachsen. Voll der Teenager, aber ich werde immer noch in besonderen Momenten

fest gedrückt. Und: Es gibt auch die andere Variante. Manchmal kommt mein Sohn

zu mir und sagt: „Mama, ich brauche mal einen Drücker.“ Und dann bekommt er ihn

natürlich auch.

Kleine Maßnahmen gegen die Einsamkeit. Manchmal reichen

eine Frage und ein kurzer Moment von „gemeinsam“, um die Einsamkeit zu vertreiben.

Willst du einen Drücker, Mama? Kann ich mal kurz

rüberkommen? Hast du eine Minute? Lust auf einen Kaffee oder Bier? Können wir

kurz reden?

Musik 2: Komm kurz rüber

Komposition: Gregor Meyle & Mathias Grosch; Interpret:

Gregor Meyle, Album/Single: Komm kurz rüber, Label: Lossless; LC 77547

8:17-9:24 = 1:07

Autorin: Gemeinsam statt einsam. Wenn das so leicht wäre, müssten

wir kein Lied davon singen. Es ist aber

nicht so leicht. Und es scheint immer schwerer zu werden, die Einsamkeit zu

vertreiben. Nachdem

schon Großbritannien, Japan und die Niederlande in den letzten Jahren groß

angelegte politische Initiativen gegen das gesellschaftliche Problem

„Einsamkeit“ gestartet haben, hat auch unsere

Bundesregierung im Dezember des vergangenen Jahres eine ressortübergreifende

Strategie gegen Einsamkeit verabschiedet.

Es braucht wohl mehr als

einen Drücker und ein Lied, um die Einsamkeit zu vertreiben. Es braucht die

Rekultivierung einer „caring community“, eine Gemeinschaft, in der man sich

umeinander sorgt. Initiativen und Angebote gibt es viele. Deutschlandweit haben

kommunale und soziale Einrichtungen längst auf die hohen Zahlen vereinsamter

Menschen reagiert.

Es gibt Online- und

Telefonangebote wie die „Telefonseelsorge oder „Telefonieren gegen die

Einsamkeit“. Es gibt Apps gegen Einsamkeit wie Nebenan.de.

Auch die Rezepte gegen

Einsamkeit sind uns allseits bekannt: Sport in der Gruppe oder im Verein, ein

neues Hobby, Selbsthilfegruppen und Beratung durch Experten.

Und trotzdem scheint es

uns immer schwerer zu fallen, diese Angebote zu nutzen. Warum? Trauen wir der

Gemeinschaft nicht zu, dass sie uns trägt? Wollen wir keinem zu Last fallen?

Auch die Kirchen in Deutschland verstehen sich als „caring communities“, also sorgende Gemeinschaften. Kirchengemeinden

und die Diakonie beteiligen sich am Ausbau von neuen Sorgestrukturen auf den

Dörfern, in den Kiezen und Stadtvierteln und in den Nachbarschaften. Christinnen

und Christen werden zu Netzwerkern, organisieren Mobilität oder schaffen in den

Städten kostenfreie Angebote, damit sich Menschen begegnen können.

“Gemeinsam

statt einsam“ heißt zum Beispiel die Initiative einiger Vereine hier vor Ort.

Einmal im Monat wird zum gemütlichen Kaffeeklatsch ins Evangelische

Gemeindehaus eingeladen. Musik und ein Stück Kuchen und viele Menschen an einem

Tisch. Mehr

braucht es nicht.

Musik 3: Walk with me

Komposition: Jonathan Shorten & Jocelyn Stoker; Interpret: Joss

Stone, Album/Single: Walk with me (Live from blackbird studio), Label: Stone’d

Records Ltd. under exclusive license to S-Curve Records; LC: unbekannt

11:30-12:06 = 0:36

Autorin: Frau Kästner ist heute das

erste Mal beim gemütlichen Kaffeeklatsch dabei. Ich sitze ihr gegenüber und

höre, wie sie der Sitznachbarin zur Linken zwischen zwei Bissen Bienenstich

erzählt: „Ich hätte auch weiter vor Einsamkeit in meinem Sessel versinken

können, aber da hab ich gedacht: Da kannst du auch mal in die Seniorengruppe

von der Gemeinde gehen. Und ich bin total froh, dass ich dat jemacht hab.“

Sag’s und schiebt sich triumphierend den nächsten Bissen Bienenstich in den

Mund. Ihr Nachbarin zur Linken nickt und sagt: Ja, jut, dass Sie mal zu uns

rüber gekommen sind.

„Komm rüber! – das ist die Aufforderung der

Fastenaktion der evangelischen Kirche in diesem Jahr. Zwischen Aschermittwoch

und Ostern heißt es: „Komm rüber! Sieben Wochen ohne Alleingänge!“ Gemeinsam

statt einsam.

Wir Menschen sind für die Beziehung gemacht. Wir

leben in Resonanz, sind in Verbindung, sind verwoben in unserem Sein mit

anderen Menschen, mit Tieren, Pflanzen und mit Gott.

In dieser Fastenzeit werden wir in die Gemeinschaft

gelockt. Sozusagen als religiöse oder spirituelle Übung gegen die Einsamkeit:

„Komm rüber!“ Du bist nicht allein. Es wird dir guttun, näher zu kommen, genauer

hinzusehen und nachzuspüren: Ich bin nicht allein.

„Komm rüber!“ – „Die zwei Worte sind wie ein kleiner

Schubs oder der Wink von der anderen Straßenseite, damit ich aus mir

herauskomme und mich auf Begegnung einlasse.

In unserer Kirchengemeinde werden wir in dieser

Fastenzeit Essenseinladungen verteilen. „Komm rüber!“ steht auf den

Einladungen. Und die Termine unserer Gemeindeessen. Sonntags nach dem

Gottesdienst. Nicht jeden Sonntag, aber oft. Mindestens einmal im Monat und zu

den hohen Feiertagen: Ostern, Himmelfahrt, Pfingsten.

Diesmal wollen wir besonders die einladen, die wir

oft vergessen. Die Geflüchteten, die sich in den letzten Jahren haben taufen

lassen, aber immer noch nicht so richtig dazugehören. Die Menschen, die in

unsere Kleiderkammern kommen. Die, die einen geliebten Menschen verloren haben

und einsam sind. Die, die es nicht allein bis zu uns schaffen und deshalb

abgeholt werden. – Kommt rüber!

Musik 4: Lenka: Get Together,

Album: The Bright Side; Label: Sony Music; LC: 10746

14:14-15:17 = 1:03

Autorin: Biblische Geschichten erzählen in vielen

Varianten: „Komm rüber!“

Sie erzählen von göttlicher

und/oder menschlicher Hilfe aus der Einsamkeit.

Hier ist eine dieser „Komm rüber!“-Geschichten:

Sprecher: »Ein

Mann veranstaltete ein großes Festessen und lud viele Gäste ein. Als

das Fest beginnen sollte, schickte er seinen Diener los und ließ den Gästen

sagen: ›Kommt, jetzt ist alles bereit!‹ Aber einer nach dem anderen entschuldigte

sich. Der erste sagte zu ihm: ›Ich habe einen Acker gekauft. Jetzt muss ich

unbedingt gehen und ihn begutachten. Bitte, entschuldige mich!‹ Ein

anderer sagte: ›Ich habe fünf Ochsengespannegekauft und bin gerade

unterwegs, um sie genauer zu prüfen. Bitte, entschuldige mich!‹ Und

wieder ein anderer sagte:› Ich habe gerade erst geheiratet und kann deshalb

nicht kommen.‹

Der Diener kam zurück und berichtete alles seinem

Herrn. Da wurde der Hausherr zornig und sagte zu seinem Diener: ›Lauf schnell

hinaus auf die Straßen und Gassen der Stadt. Bring die Armen, Verkrüppelten,

Blinden und Gelähmten hierher.‹ Bald darauf meldete der Diener:

›Herr, dein Befehl ist ausgeführt, aber es ist immer noch Platz.‹ Da

sagte der Herr zu ihm: ›Geh hinaus aus der Stadt auf die Landstraßen und an die

Zäune. Dränge die Leute dort herzukommen, damit mein Haus voll wird!‹

Autorin: Am Ende wird das für alle ein

Erlebnis gewesen sein. Mag sein, der Gastgeber war zuerst verärgert oder

gekränkt. Aber ich stelle mir vor, das wird denen von den Hecken und Zäunen

egal gewesen sein. Hauptsache im großen Stil eingeladen. Die ursprüngliche

Gästeliste lässt ja auf ein gehobenes Essens- und Partyniveau schließen.

Ich hoffe, sie haben richtig

gefeiert. Genommen, was ihnen geboten worden ist.

Ihre Chance auf einen großen Abend

genutzt. Wenn schon mal jemand sagt: Komm rüber! Sollte die Gelegenheit genutzt

werden.

Seit Tagen hoffe ich auf

elektronische Post von Herrn Ruppert. Jetzt zu Beginn der Passionszeit wäre

eigentlich der richtige Zeitpunkt für Ostergrüße. Falls die Ostergrüße in

dieser Woche nicht kommen, habe ich mir vorgenommen selbst verfrühte Ostergrüße

zu verschicken. Zusammen mit der Einladung zum Gemeindeessen: „Komm rüber!“

Und vielleicht findet sich ja so

ein Weg aus der Einsamkeit.

Dass Sie gute Wege finden und

jemand ihnen gelegentlich sagt: Komm rüber! –

Das wünscht Ihnen Ihre Pfarrerin

Anne Kathrin Quaas aus Königswinter.

Musik 7: Walk with me

Interpret: Goldford, Album/Single: Walk with me, Label: goldford; LC:

unbekannt

17:51-20:00 = 2:09

Redaktion:

Landespfarrer Dr. Titus Reinmuth

  • 25.2.2024
  • Anne Kathrin Quaas
  • © Foto von Shubhesh Aggarwal auf Unsplash