Autorin: Manchmal meldet sich Herr
Ruppert per Mail bei mir. Telefonieren kann er nicht. Er ist fast taub. “Ich
wünsche Ihnen und Ihrer Familie ein frohes Weihnachtsfest!” Die Mail mit den
Weihnachtsgrüßen schreibt er am 29. Oktober. Ich schreibe zurück: „Warum so
frühe Weihnachtswünsche? Alles ok?“ – Und bekomme postwendend die Antwort: „Ich
bin so einsam.“
Es erschüttert mich, dass jemand so einsam ist, dass
er schon Ende Oktober Weihnachtswünsche verschickt. Dann denke ich aber auch:
Eigentlich ganz klug. Denn die Wahrscheinlichkeit ist doch sehr hoch, dass Herr
Ruppert so viel mehr Reaktionen bekommt als im Dezember. Weihnachtswünsche im
Oktober zu verschicken, ist vielleicht ein gutes Mittel gegen Einsamkeit.
Einsamkeit
kann als ein unangenehmes Gefühl beschrieben werden, das auftritt, wenn die
aktuell bestehenden Beziehungen nicht den gewünschten sozialen Beziehungen
entsprechen. Umfassende Umfragen der letzten Jahre legen nahe, dass ungefähr
jede zehnte in Deutschland lebende Person sich oft oder sehr oft einsam fühlt.
Waren es vor der Coronapandemie vor allem Menschen im hohen Alter, hat sich das
gesamtgesellschaftliche Bild in den letzten Jahren verändert. In und nach der
Pandemie ist vor allem die Zahl der jungen Menschen, die über Einsamkeit klagen,
deutlich gestiegen.
Nicht alle, die allein sind, sind einsam. Manche leben
sehr bewusst allein. Tun Dinge lieber ganz für sich, beschränken sich auf
wenige Kontakte zu anderen und fühlen sich wohl damit. Wenn Menschen aber
anfangen unter dem Alleinsein zu leiden, dann ist es gut, nach Kontakt zu
suchen. So wie es Herr Ruppert macht.
Musik 1: So lonely
Interpret: Jorja Smith, Album: Project 11, Label: Famm; LC: 57513
1:43-3:02 = 1:19
Sprecher: Es
war einmal ein arm Kind und hat kein Vater und kei Mutter, war Alles tot und
war Niemand mehr auf der Welt. Alles tot, und es ist hingangen und hat gerrt
Tag und Nacht. Und wie auf der Erd Niemand mehr war, wollt’s in Himmel gehn,
und der Mond guckt es so freundlich an und wie’s endlich zum Mond kam, war’s
ein Stück faul Holz und da ist es zur Sonn gangen und wie’s zur Sonn kam, war’s
ein verwelkt Sonneblum und wie’s zu den Sterne kam, warn’s klei golde Mücke,
die warn angesteckt wie der Neuntöter sie auf die Schlehe steckt, und wie’s
wieder auf die Erd wollt, war die Erd ein umgestürzter Hafen und war ganz
allein und da hat sich’s hingesetzt und gerrt und da sitzt‘ es noch und ist
ganz allein.(Georg Büchner: Woyzeck, 19. Szene)
Autorin: Es ist ein sehr finsteres
Märchen, das die Großmutter den Kindern in Georg Büchners „Woyzeck“ vorliest. Der Einsamkeit ist nicht zu entkommen. Egal an wen das
Kind sich wendet, Menschen oder Himmelswesen, immer scheitert die Begegnung und
das Kind bleibt einsam zurück.
Einsam zu sein, das kann ein schrecklich jämmerliches
Gefühl sein. Für viele ist das zum Weinen. Zum Hinsetzen – und am liebsten nie
wieder aufstehen wollen. Total niederdrückend und dunkel ist dann die
Einsamkeit. In Psalm 102 klagt der Betende Gott seine Einsamkeit:
Sprecher:
Ich bin wie eine Eule in der Wüste,
wie ein Käuzchen in zerstörten Städten.
Ich wache und klage
wie ein einsamer Vogel auf dem Dach.
Autorin: Einsam zu sein, das kann ein
schrecklich jämmerliches Gefühl sein.
Dabei klingt in der ursprünglichen
Bedeutung des Wortes auch Positives an. "Einsam" ist eine
frühneuhochdeutsche Ableitung zum mittelhochdeutschen Zählwort "ein"
und bedeutet ursprünglich "allein" im Sinne von "alleinig"
– also: einmalig und besonders, unverwechselbar. Diese Dimension der Einsamkeit
ist in unserer Gesellschaft eigentlich positiv besetzt, bewahrt uns aber
offensichtlich nicht vor dem Gefühl: Ich bin einsam. Vielleicht sind viele gerade
deshalb heute einsamer denn je, weil alle so sehr darum bemüht sind, einmalig
zu sein. Wenn überhaupt mischt man sich doch nur mit seinesgleichen. Und wenn
das, was ich mit anderen gemeinsam habe neben meiner Einmaligkeit keinen Wert
mehr hat, dann bin ich schnell einsam.
Musik 1
5:17-6:38 = 1:21
Autorin: Heiligabend verabschiede ich
mich an der Kirchentür auch von Frau Sonnborn. Während die meisten sich
familienweise an mir vorbei schieben, steht sie allein vor mir. „Ich bin heute
Abend allein. Das wollte ich so.“ – antwortet sie lächelnd auf meinen fragenden
Blick und entschwindet mit ihrem Rollator in die heiligabendliche Dunkelheit.
Ich schaue ihr kurz hinterher, bis sich die nächste Großfamilie in meinen Blick
schiebt. Und in Gedanken begleitet mich die kurze Szene noch lange. Wie schafft
die alte Dame das? Gut allein sein zu können? Ich hätte gerne ihr Rezept. Alleinsein
heißt nicht immer einsam sein.
Alleinsein kann auch als positiv
empfunden werden: Es gibt Menschen, die sind gern allein, vielleicht auch, weil
sie sich mit anderen im Herzen tief verbunden wissen, ohne das jeden Tag
erleben zu müssen. Weil es immer wieder mal die Erfahrung von „Gemeinsam“ gibt,
so dass sie das Alleinsein nicht so schnell mit einem Gefühl von Mangel
verbinden.
Frau Sonnborn kommt seit 30 Jahren
jede Woche in den Seniorenkreis der Kirchengemeinde. Jeden Morgen schiebt sie
mit ihrem Rollator einmal quer durch den Ort zu Edeka. Und jeden Abend ruft die
Tochter kurz durch. Und wenn sie zu Bett geht, redet sie kurz mit Gott: Müde
bin ich, geh zu Ruh. Das reicht Frau Sonnborn. Ja, sie ist viel allein. Aber
nicht einsam.
„Willst du einen Drücker, Mama?“ Diese Frage meines
Sohnes überrascht mich meist in Momenten, in denen ich mit meinen Gedanken
woanders bin. Kurz rausgezoomt aus der familiären Gemeinschaft, innerlich
woanders. Seit Jahren holt er mich mit dieser Frage immer wieder zurück. Und
ich nehme sein Angebot, mich fest drücken zu lassen, gerne an. Ein gutes Gefühl
ist das, wenn mein Sohn mich fest drückt. Mittlerweile ist er mir über den Kopf
gewachsen. Voll der Teenager, aber ich werde immer noch in besonderen Momenten
fest gedrückt. Und: Es gibt auch die andere Variante. Manchmal kommt mein Sohn
zu mir und sagt: „Mama, ich brauche mal einen Drücker.“ Und dann bekommt er ihn
natürlich auch.
Kleine Maßnahmen gegen die Einsamkeit. Manchmal reichen
eine Frage und ein kurzer Moment von „gemeinsam“, um die Einsamkeit zu vertreiben.
Willst du einen Drücker, Mama? Kann ich mal kurz
rüberkommen? Hast du eine Minute? Lust auf einen Kaffee oder Bier? Können wir
kurz reden?
Musik 2: Komm kurz rüber
Komposition: Gregor Meyle & Mathias Grosch; Interpret:
Gregor Meyle, Album/Single: Komm kurz rüber, Label: Lossless; LC 77547
8:17-9:24 = 1:07
Autorin: Gemeinsam statt einsam. Wenn das so leicht wäre, müssten
wir kein Lied davon singen. Es ist aber
nicht so leicht. Und es scheint immer schwerer zu werden, die Einsamkeit zu
vertreiben. Nachdem
schon Großbritannien, Japan und die Niederlande in den letzten Jahren groß
angelegte politische Initiativen gegen das gesellschaftliche Problem
„Einsamkeit“ gestartet haben, hat auch unsere
Bundesregierung im Dezember des vergangenen Jahres eine ressortübergreifende
Strategie gegen Einsamkeit verabschiedet.
Es braucht wohl mehr als
einen Drücker und ein Lied, um die Einsamkeit zu vertreiben. Es braucht die
Rekultivierung einer „caring community“, eine Gemeinschaft, in der man sich
umeinander sorgt. Initiativen und Angebote gibt es viele. Deutschlandweit haben
kommunale und soziale Einrichtungen längst auf die hohen Zahlen vereinsamter
Menschen reagiert.
Es gibt Online- und
Telefonangebote wie die „Telefonseelsorge oder „Telefonieren gegen die
Einsamkeit“. Es gibt Apps gegen Einsamkeit wie Nebenan.de.
Auch die Rezepte gegen
Einsamkeit sind uns allseits bekannt: Sport in der Gruppe oder im Verein, ein
neues Hobby, Selbsthilfegruppen und Beratung durch Experten.
Und trotzdem scheint es
uns immer schwerer zu fallen, diese Angebote zu nutzen. Warum? Trauen wir der
Gemeinschaft nicht zu, dass sie uns trägt? Wollen wir keinem zu Last fallen?
Auch die Kirchen in Deutschland verstehen sich als „caring communities“, also sorgende Gemeinschaften. Kirchengemeinden
und die Diakonie beteiligen sich am Ausbau von neuen Sorgestrukturen auf den
Dörfern, in den Kiezen und Stadtvierteln und in den Nachbarschaften. Christinnen
und Christen werden zu Netzwerkern, organisieren Mobilität oder schaffen in den
Städten kostenfreie Angebote, damit sich Menschen begegnen können.
“Gemeinsam
statt einsam“ heißt zum Beispiel die Initiative einiger Vereine hier vor Ort.
Einmal im Monat wird zum gemütlichen Kaffeeklatsch ins Evangelische
Gemeindehaus eingeladen. Musik und ein Stück Kuchen und viele Menschen an einem
Tisch. Mehr
braucht es nicht.
Musik 3: Walk with me
Komposition: Jonathan Shorten & Jocelyn Stoker; Interpret: Joss
Stone, Album/Single: Walk with me (Live from blackbird studio), Label: Stone’d
Records Ltd. under exclusive license to S-Curve Records; LC: unbekannt
11:30-12:06 = 0:36
Autorin: Frau Kästner ist heute das
erste Mal beim gemütlichen Kaffeeklatsch dabei. Ich sitze ihr gegenüber und
höre, wie sie der Sitznachbarin zur Linken zwischen zwei Bissen Bienenstich
erzählt: „Ich hätte auch weiter vor Einsamkeit in meinem Sessel versinken
können, aber da hab ich gedacht: Da kannst du auch mal in die Seniorengruppe
von der Gemeinde gehen. Und ich bin total froh, dass ich dat jemacht hab.“
Sag’s und schiebt sich triumphierend den nächsten Bissen Bienenstich in den
Mund. Ihr Nachbarin zur Linken nickt und sagt: Ja, jut, dass Sie mal zu uns
rüber gekommen sind.
„Komm rüber! – das ist die Aufforderung der
Fastenaktion der evangelischen Kirche in diesem Jahr. Zwischen Aschermittwoch
und Ostern heißt es: „Komm rüber! Sieben Wochen ohne Alleingänge!“ Gemeinsam
statt einsam.
Wir Menschen sind für die Beziehung gemacht. Wir
leben in Resonanz, sind in Verbindung, sind verwoben in unserem Sein mit
anderen Menschen, mit Tieren, Pflanzen und mit Gott.
In dieser Fastenzeit werden wir in die Gemeinschaft
gelockt. Sozusagen als religiöse oder spirituelle Übung gegen die Einsamkeit:
„Komm rüber!“ Du bist nicht allein. Es wird dir guttun, näher zu kommen, genauer
hinzusehen und nachzuspüren: Ich bin nicht allein.
„Komm rüber!“ – „Die zwei Worte sind wie ein kleiner
Schubs oder der Wink von der anderen Straßenseite, damit ich aus mir
herauskomme und mich auf Begegnung einlasse.
In unserer Kirchengemeinde werden wir in dieser
Fastenzeit Essenseinladungen verteilen. „Komm rüber!“ steht auf den
Einladungen. Und die Termine unserer Gemeindeessen. Sonntags nach dem
Gottesdienst. Nicht jeden Sonntag, aber oft. Mindestens einmal im Monat und zu
den hohen Feiertagen: Ostern, Himmelfahrt, Pfingsten.
Diesmal wollen wir besonders die einladen, die wir
oft vergessen. Die Geflüchteten, die sich in den letzten Jahren haben taufen
lassen, aber immer noch nicht so richtig dazugehören. Die Menschen, die in
unsere Kleiderkammern kommen. Die, die einen geliebten Menschen verloren haben
und einsam sind. Die, die es nicht allein bis zu uns schaffen und deshalb
abgeholt werden. – Kommt rüber!
Musik 4: Lenka: Get Together,
Album: The Bright Side; Label: Sony Music; LC: 10746
14:14-15:17 = 1:03
Autorin: Biblische Geschichten erzählen in vielen
Varianten: „Komm rüber!“
Sie erzählen von göttlicher
und/oder menschlicher Hilfe aus der Einsamkeit.
Hier ist eine dieser „Komm rüber!“-Geschichten:
Sprecher: »Ein
Mann veranstaltete ein großes Festessen und lud viele Gäste ein. Als
das Fest beginnen sollte, schickte er seinen Diener los und ließ den Gästen
sagen: ›Kommt, jetzt ist alles bereit!‹ Aber einer nach dem anderen entschuldigte
sich. Der erste sagte zu ihm: ›Ich habe einen Acker gekauft. Jetzt muss ich
unbedingt gehen und ihn begutachten. Bitte, entschuldige mich!‹ Ein
anderer sagte: ›Ich habe fünf Ochsengespannegekauft und bin gerade
unterwegs, um sie genauer zu prüfen. Bitte, entschuldige mich!‹ Und
wieder ein anderer sagte:› Ich habe gerade erst geheiratet und kann deshalb
nicht kommen.‹
Der Diener kam zurück und berichtete alles seinem
Herrn. Da wurde der Hausherr zornig und sagte zu seinem Diener: ›Lauf schnell
hinaus auf die Straßen und Gassen der Stadt. Bring die Armen, Verkrüppelten,
Blinden und Gelähmten hierher.‹ Bald darauf meldete der Diener:
›Herr, dein Befehl ist ausgeführt, aber es ist immer noch Platz.‹ Da
sagte der Herr zu ihm: ›Geh hinaus aus der Stadt auf die Landstraßen und an die
Zäune. Dränge die Leute dort herzukommen, damit mein Haus voll wird!‹
Autorin: Am Ende wird das für alle ein
Erlebnis gewesen sein. Mag sein, der Gastgeber war zuerst verärgert oder
gekränkt. Aber ich stelle mir vor, das wird denen von den Hecken und Zäunen
egal gewesen sein. Hauptsache im großen Stil eingeladen. Die ursprüngliche
Gästeliste lässt ja auf ein gehobenes Essens- und Partyniveau schließen.
Ich hoffe, sie haben richtig
gefeiert. Genommen, was ihnen geboten worden ist.
Ihre Chance auf einen großen Abend
genutzt. Wenn schon mal jemand sagt: Komm rüber! Sollte die Gelegenheit genutzt
werden.
Seit Tagen hoffe ich auf
elektronische Post von Herrn Ruppert. Jetzt zu Beginn der Passionszeit wäre
eigentlich der richtige Zeitpunkt für Ostergrüße. Falls die Ostergrüße in
dieser Woche nicht kommen, habe ich mir vorgenommen selbst verfrühte Ostergrüße
zu verschicken. Zusammen mit der Einladung zum Gemeindeessen: „Komm rüber!“
Und vielleicht findet sich ja so
ein Weg aus der Einsamkeit.
Dass Sie gute Wege finden und
jemand ihnen gelegentlich sagt: Komm rüber! –
Das wünscht Ihnen Ihre Pfarrerin
Anne Kathrin Quaas aus Königswinter.
Musik 7: Walk with me
Interpret: Goldford, Album/Single: Walk with me, Label: goldford; LC:
unbekannt
17:51-20:00 = 2:09
Redaktion:
Landespfarrer Dr. Titus Reinmuth