Guten
Morgen,
schon
ewig lag sie da im Archiv des Ägyptischen Museums in Bonn: die unscheinbare
Kalksteinplatte. Alfred Wiedemann, der Gründer der Sammlung, hatte sie im
heutigen Luxor – dem altägyptischen Theben – von einem Händler gekauft. Vor
allem, wegen der Vorderseite. Darauf ist eine typische Darstellung der so genannten
Thebanischen Dreiheit zu sehen. Das sind die wichtigsten Götter, die in Theben vor
mehr als 3000 Jahren verehrt wurden, Amun, der Schöpfer, sein Sohn Chons und
die löwenköpfige Mut, die Muttergottheit. Bloß, dass die auf dieser Platte vorne
gar nicht mit drauf ist. Dafür ist der Pharao zu sehen, der sich den Göttern
nähert.
Wahrscheinlich
ein Entwurf von einem Bildhauer, so dachten die Forscher. Zumal auf der
Rückseite in den sonst ganz rohen Stein noch zwei kleine menschliche Ohren
graviert waren. Vielleicht auch Übungsversuche des Künstlers? Echte Künstler
fangen eben auch klein an und müssen irgendwo mal üben.
Nach
über einhundert Jahren aber hat jemand im Rahmen eines Forschungsprojektes genauer
hingesehen.
Und
wirklich ist ja weniger manchmal mehr. So wie auf der Rückseite dieser
Steintafel. Denn die Forscher fanden im groben Naturstein noch ein weiteres,
ein drittes kleines eingraviertes Menschenohr, und außerdem – ganz natürlich in
die Maserung des Steins eingearbeitet – auch den Kopf einer Löwin – das Symbol
der Göttin Mut, die vorne fehlte. Und wer noch näher hinsieht, meint, dass
dieses dritte Menschenohr zugleich das Ohr der Göttin ist.
Kein
Übungsstück also, das halb fertig liegen gelassen wurde, sondern ein
Meisterwerk. (1) Und obendrein eines, – so die Forscher – das zwei Seiten einer
Medaille zeigt: Vorne drauf die offizielle Theologie – also der Pharao, der den
Göttern Amun und Chons opfert. Und auf der Rückseite der persönliche Glaube:
Der Mensch, der zur löwenköpfigen Göttin Mut betet – die mit ihrer Kraft und
Stärke Schutz verspricht.
Dreitausendzweihundert
Jahre alt ist diese Tafel und so weit weg. So weit weg wie meine Vorstellungen
von Gott und der Welt, von denen der ägyptischen Künstler und Theologen sind.
Und ich ahne, wir würden uns kaum einig werden an der Oberfläche unserer
Religion und unseres Glaubens.
Oder
sollte ich vielleicht besser sagen, auf der Vorderseite? Die Rückseite nämlich
so grob und unscheinbar sie auf den ersten Blick aussieht, berührt mich. Und
mit den drei Menschenohren und der Gottheit, die sich eines der Menschenohren
leiht, da spricht sie mich an und erzählt auch von meinem Beten. Von meiner
Hoffnung und meinem manchmal festen, manchmal auch schwankenden Vertrauen, dass
Himmel und Erde nicht taub sind für mein Bitten und für das aller Welt.
Und
mir fällt ein Satz aus der Bibel ein, über den ich wohl schnell einig würde –
nicht nur mit alten Ägyptern:
„Der
das Ohr geschaffen hat, sollte der nicht hören?“ (Psalm 94,9)
Merkwürdig
wie mich ein Stück Stein über dreitausend Jahre und hinweg mit einem anderen
Menschen verbindet. Und noch viel merkwürdiger, dass oft so viel Streit und
Uneinigkeit ist zwischen den Religionen.
Einen
aufmerksamen Tag wünscht Ihnen
Ihr
Jan-Dirk Döhling aus Bielefeld.
(1)
https://www.uni-bonn.de/de/neues/152-2022 (abgerufen 04.03.24)
https://idw-online.de/de/news814080 (abgerufen 05.03.24)
Redaktion:
Landespfarrerin
Petra Schulze
https://www.kirche-im-wdr.de/uploads/tx_krrprogram/63592_WDR35240323Doehling.mp3