Autor 1: Der Vater strahlt. Voller Stolz. Er berichtet, dass
seine Tochter negativ getestet wurde. Ich bin Pfarrer in der Militärseelsorge
und besuche eine Soldatenfamilie mit drei Kindern. Der jüngste Sohn Karl soll
getauft werden. Der Mittlere, Emil wird im Sommer eingeschult. Aber zunächst
geht es um die Tochter. Evelyn ist vierzehn. Wir unterhalten uns im Esszimmer, Kaffeetassen
stehen auf dem Tisch, Gebäck auch. „Eine gute Nachricht“, sagt der Stabsfeldwebel.
Direkt nach der Einschulung, so erzählen mir die Eltern, sei bei ihrer Evelyn
eine Lese- und Rechtschreibschwäche, eine LRS diagnostiziert worden. Sie habe
sich sehr schwer getan mit dem Schreiben-Lernen und dem Lesen. In der
Grundschule wurde gelacht, wenn sie mit dem Vorlesen an der Reihe war. Es gab
Tränen zu Hause, wenn Klassenarbeiten bevorstanden und erst recht, wenn sie
zurückgegeben wurden. Evelyn hat sich oft geschämt, ging nicht immer gern in
die Schule. Sie wurde getestet, erhielt Therapien, jahrelanges Training bei
einer Therapeutin. „Und jetzt?“ frage ich. Die Mutter berichtet, dass seit gestern
ein weiteres Testergebnis vorliegt. Es sagt, dass Evelyn sich bei
Schreibaufgaben im oberen Mittelfeld der Durchschnittsschüler bewege. Sie hat
offensichtlich keine LRS mehr.
Sie
habe sich mächtig gefreut. Und nicht nur sie. Er ist sehr stolz auf seine
Tochter, sagt der Soldat, dass sie mit ihrem Fleiß und ihrer Beharrlichkeit es
so weit gebracht hat. Und wieder strahlt er.
Als
ich diese Geschichte höre, denke ich bei mir: Ist das nun eigentlich wirklich
eine menschliche Schwäche, diese Lese- und Rechtschreibschwäche, unter der
viele Kinder leiden und dafür einen Nachteilsausgleich erhalten? Einerseits
gewiss, sie können weniger gut als andere Rechtschreib- und Satzbauregeln
befolgen und einhalten. Sie formulieren anders, gehen sehr kreativ mit
Buchstaben um. Aber ist das wirklich Schwäche?
Denn
welche Stärke hat dieses Mädchen aufgebracht und entwickelt, sich damit nicht
abzufinden, sondern zu trainieren, immer wieder sich den Aufgaben zu stellen,
Regeln zu lernen, Rückschläge hinzunehmen. Oft auch mit zornigen Tränen
insbesondere beim Vokabellernen, aber nun mit messbarem Erfolg. Und mit Stolz freut
sie sich. Muss man bei dieser Schwäche nicht eigentlich von einer ganz
besonderen Stärke sprechen?
Musik 1: Befiehl
du deine Wege, instrumental
Künsterin:
Sarah Kaiser, Album: Gast auf Erden; Label: GerthMedien; LC: 13743
Autor 2: Wir sprechen über die Taufe des Jüngsten. Karl soll
getauft werden. Wir sprechen über den Ablauf des Gottesdienstes und wer die
Paten sind und wer das Wasser in den Taufstein gießen wird. „Der Herr ist mein
Hirte, mir wird nichts mangeln.“ Dieser Satz aus dem Psalm 23 wird der
Taufspruch. Wir reden darüber, wie man die Taufkerze selbst und kreativ
gestaltet und mir wird mir klar: Bei all dem geht es um Segen. Um die Hoffnung
auf Gottes Segen, der alles Leben, auch das von Karl, von Emil und Evelyn zum
Guten führen will. Auch das Leben dieser drei Kinder in dieser Soldatenfamilie,
bei der ich zu Besuch sein darf.
Musik 1: Befiehl Du Deine Wege, Str 1.
Autor 3: Befiehl Du Deine Wege ist ein Lied von Paul
Gerhardt, das mich sehr berührt: „Der Wolken, Luft und Winden gibt Wege, Lauf
und Bahn, der wird auch Wege finden, da dein Fuß gehen kann.“ Welch ein
Vertrauen. Diese Liedverse sind über 320 Jahre alt – sie entstanden zu einer Zeit,
als der Schrecken des Dreißigjährigen Krieges erst wenige Jahre vorüber war,
der sich auch in die Lebensgeschichte des Liederdichters Paul Gerhardt tief
eingegraben hat. Und nun dies: „Dem Herren musst du trauen, wenn dir’s soll
wohlergehn“.
Wie
macht man das, ein solches Vertrauen aufbringen, zu einem solchen Glauben
finden an die Macht des göttlichen Segens, der sich fühlbar auswirkt auf das
eigene Leben? Für Paul Gerhardt hängt das Eine am Andern: Wer auf Gott vertraut,
dem wird es wohlergehen.
Dies
gilt auch für das Taufgespräch mit der Soldatenfamilie. Beim Erzählen über den
Weg ihrer Tochter Evelyn, den aufgeweckten Emil und die Taufe des kleinen Karl wird
mir deutlich, wie groß die Hoffnungen sind und wie stark die Wünsche. Dieser
kleine Kerl, der aufmerksam auf seiner Krabbeldecke liegt und immer wieder zu
uns herüberschaut, soll ein gutes, ein gesegnetes Leben haben. Es soll ihm
wohlergehn, bitte. Mit Bedacht suchen die Eltern ihre Taufpaten aus und
überlegen, welche Texte, welche Lieder passen.
Mich
bewegt, wie viel Liebe diese Beiden für ihre Kinder aufbringen. Und welche
Hoffnung sie in die Kraft des Segens legen, der sich an ihnen auswirkt.
Deswegen der Wunsch zur Taufe: Auch in sie mündet die Bereitschaft, ihren
Kindern Bestmögliches angedeihen zu lassen. Was lässt Menschen stark werden auf
ihrem Weg, so dass – wie bei der Tochter Evelyn – irgendwann deutlich wird:
Auch das, was andere möglicherweise als deine Schwäche ansehen, als Behinderung
und als Einschränkung etikettieren, kann zu einer besonderen Stärke werden. Emil,
der langsam zu dem Besucher Vertrauen fasst und mir sein Lego-Auto zeigt, macht
mir es klar: So, wie diese Kinder sind, entfaltet sich Liebe ganz besonders
stark. Und erst recht, wenn sie herausgefordert ist und sich bewähren und erweisen
muss, weil da Schwierigkeiten sind und Sorgen.
Musik 1: Befiehl Du Deine Wege, Instrumentalteil am
Schluss
Sprecherin (overvoice):
4. Weg hast du allerwegen, an Mitteln fehlt dir’s
nicht;
dein Tun ist lauter Segen,
dein Gang ist lauter Licht;
dein Werk kann niemand
hindern, dein Arbeit darf nicht ruhn,
wenn du, was deinen Kindern
ersprießlich ist, willst tun.
Autor 4 (weiter overvoice): Aber wie wirkt Gottes Segen? Was ist das für eine
Kraft, die man Segen nennt? Woran erkennt man ihn und wie wirkt er sich aus? Und
noch einmal anders gefragt: Kann es auch sein, dass Gott unser Vertrauen in
seinen Segen enttäuscht?
Musik 1: Befiehl Du Deine Wege,
nochmal kurz freistehend
instrumental, dann ausklingen lassen
Autor 5: Vor einigen Wochen stand ich an der Autobahn. An ihrem
Rand ist ein Kreuz aufgestellt, das an einen tragischen Unfall erinnert. Vor
über zwanzig Jahren sind 11 Menschen hier ums Leben gekommen. Ein Reisebus war an
einem kalten, nassen Wintermorgen in den frühen Morgenstunden um 5.20 Uhr kurz
hinter vor der französischen Grenze in die Betonbegrenzung der Fahrbahn geraten.
Der übermüdete Fahrer konnte den Bus nicht mehr unter Kontrolle bringen. Durch
Funkenflug fing das austretende Benzin sofort Feuer. 37 Insassen konnten sich
retten, aber 11 Menschen starben in den Flammen im brennenden Bus.
Dieses Unglück ist nun zwanzig
Jahre her. Ich stehe mit den Eltern eines damals 18jährigen jungen Mannes,
ihres einzigen Sohnes und mit anderen Angehörigen an diesem Kreuz an der
Autobahn. Sie haben Blumen mitgebracht und seine Mutter hat elf weiße Steine in
einem Beutel. Auf ihnen stehen die Namen der 11 Todesopfer und ihre Lebensdaten.
Sie hat diese Steine selbst bemalt, die sie nun rund um das Kreuz ins Gras
legt. Am Vorabend des 20. Jahrestages, an dem ihr Sohn und seine Freundin ihr
Leben verloren. Er hatte den Bus offenbar bereits verlassen. Er stand schon
draußen und war gerettet. So hat es ein Augenzeuge erzählt. Als er merkte, dass
seine Freundin nicht bei ihm war, ist er wieder hinein in den brennenden Bus. Beide
sind ums Leben gekommen.
Als wir hier stehen, ist dieses
tragische Unglück so präsent, als wäre es gestern passiert. Die Eltern erzählen,
wie es war, als sie die Nachricht vom Unfall erhielten und sich sofort auf den
Weg machten. Und nun stehen sie seit zwanzig Jahren jedes Jahr am Unglückstag
erneut an diesem Ort und erinnern sich an ihren einzigen Sohn und gedenken auch
der anderen Verstorbenen.
Wir feiern einen Gottesdienst
am Vorabend des Jahrestages, zünden Kerzen an, sprechen ein Gebet und sitzen hinterher
noch lange beieinander. Und am nächsten Morgen stehen diese beiden Eltern mit
anderen Angehörigen in einer dunklen, eiskalten, regnerischen Winternacht um
5.20 Uhr am Kreuz, das den Unglücksort markiert. Entzünden Kerzen. So wie jedes
Jahr.
Musik 1: Befiehl Du Deine Wege, Str. 7
Autor 6: Warum,
Gott, lässt Du das zu? Wie oft mögen sich Angehörige nach solchen
Unglücksfällen, nach einem schmerzhaften, viel zu frühen Tod eines geliebten Menschen
diese Frage gestellt haben?
Gott lenkt die Dinge? Gott
führet alles wohl? Lässt sich das auch sagen an diesem Kreuz an der Autobahn,
das an elf Menschen erinnert, die hier ihr Leben verloren haben? „Nein, Paul Gerhardt“ möchte ich protestierend
einwenden. „Nein, das kann nicht Gottes Wille sein!“ Segen erweist sich doch im
Leben, nicht im Sterben! Wie schmerzhaft wurden hier die Hoffnungen, die Liebe
und Fürsorge von Eltern enttäuscht!
Doch
ich lerne dazu. Von den Angehörigen, die voller Dankbarkeit auf das Angebot des
Gottesdienstes und der Begleitung reagieren. Mir scheint, längst sind sie über
die Fragen, den Protest, die Verzweiflung hinaus. Nun bleiben die Erinnerung
und eine Verantwortung, das Andenken an ihren Sohn und die anderen zehn Menschen,
die mit ihm starben, lebendig zu halten und diesen Ort zu pflegen. Weil sie ihm
und sich selbst als Eltern dies schuldig sind. Weil ihre Liebe weiterhin stark
ist.
Und
vielleicht lebt auch der Segen Gottes weiter, gegen unseren Protest, über unser
Fragen hinaus, überlebt unser Hadern und Zweifeln auch.
Musik 2: Befiehl
du deine Wege (feat. Chris Gall)
Komposition: Bartholomäus
Gesius; Interpreten: Quadro Nuevo; Album: Songs for Peace; Label: GLM Music;
LC: 58955
Autor 8: Heute ist der zweite Sonntag nach dem Osterfest. In
aller Welt haben Christen die Auferstehung Jesu gefeiert. Das Fest des Lebens. Aber
was ist mit den vielen Toten, die nicht wieder auferstehen, die einfach tot
bleiben und weg und in einem Menschenleben fehlen?
Als
Pfarrer in der Notfallseelsorge und in der Militärseelsorge habe ich die
Verzweiflung über einen plötzlichen Tod oft miterlebt. Viele Fragen und auch viele
Antworten auf diese Fragen gehört. Viele trauernde Angehörige, manche Eltern,
die ihr Kind verlieren, bleiben über den Tod hinaus verbunden mit denen, denen
sie das Leben geschenkt, mit denen sie es geteilt haben. Manche auch mit ihren
Eltern, denen sie ihr eigenes Leben verdanken. Offensichtlich, so habe ich von
ihnen erfahren, gibt es Formen von Verbundenheit, die das Sterben und den Tod
sehr lange überdauern. Nach dem Protest, der Verzweiflung findet anderes seinen
Platz. Das Leben geht weiter mit den geliebten Menschen. Sie behalten ihren
Platz. Es bleiben Erinnerungen, Liebe, Verantwortung. Und oft auch Dankbarkeit
für das, was war und nachwirkt. Vielleicht auch ein Vermächtnis oder Auftrag,
etwas, das man aufnimmt und weiterführt.
Der
heutige Sonntag hat im Kirchenjahr seinen eigenen Namen, er heißt
„Misericordias Domini“, übersetzt: Die „Gnade des Herrn“. Gottes Gnade reicht
offensichtlich weiter, als wir glauben können. Einer der bekanntesten Psalmen
der Bibel wird heute in vielen Kirchen gesprochen. Er handelt vom guten Hirten.
Oft wird er als Taufspruch oder bei Konfirmationen gesprochen, der Psalm 23.
Sprecherin: Der HERR ist mein Hirte, mir wird nichts mangeln. Er
weidet mich auf einer grünen Aue und führet mich zum frischen Wasser. Er
erquicket meine Seele. Er führet mich auf rechter Straße um seines Namens
willen. Und ob ich schon wanderte im finstern Tal, fürchte ich kein Unglück;
denn du bist bei mir, dein Stecken und Stab trösten mich. Du bereitest vor mir
einen Tisch im Angesicht meiner Feinde. Du salbest mein Haupt mit Öl und
schenkest mir voll ein. Gutes und Barmherzigkeit werden mir folgen mein Leben
lang, und ich werde bleiben im Hause des HERRN immerdar.
Autor 9: Vielleicht ist dieser Psalm auch deswegen so bekannt
geworden, weil er auf Sehnsucht antwortet: Er weiß, dass es finstere Täler gibt
und auch Unglück. Er spricht sogar davon, dass wir Feinde haben. So ein
Lebensweg stellt vor Herausforderungen. Als Militärpfarrer erzählen mir
Soldaten aus ihren Auslandseinsätzen, wo sie mit Tod, Verwundung und Entbehrung
konfrontiert worden sind. Manche davon leiden stark unter diesen Erlebnissen. Dies
kommt mir in den Sinn, als wir in der Soldatenfamilie über die Taufe des
kleinen Karl sprechen. Er wird diesen Vers als Taufspruch erhalten: „Der Herr
ist mein Hirte, mir wird nichts mangeln.“ Und sein Vater, der Stabsfeldwebel,
erzählt, wie wichtig ihm dieser Vers geworden ist – als er in Afghanistan monatelang
von seiner Familie getrennt war.
Musik 2: Befiehl
du deine Wege (feat. Chris Gall)
Es
gibt keine Garantien, dass alles immer gut ausgeht, dass nicht
Herausforderungen kommen, von denen man große Angst hat und nicht weiß, wie es
weitergeht. Wir sind Menschen und so verletzlich wie das Leben des kleinen
Karl, der in vier Wochen getauft wird. Ich darf zuhören. Und erfahre etwas von
der Kraft des Segens, die sich in harten Zeiten bewährt. Und – so erzählen
andere Geschichten von Verlust, Trauer und Neuanfang, sogar durch den Tod noch
stärker werden kann. Was für eine Logik. Ist das die Macht des Lebens? Steckt
diese Kraft auch hinter den Erzählungen von Jesu Auferstehung? Man kann sie
nicht erfassen und begreifen, nur zuhören und vertrauen, auf dieser Spur der
Liebe bleiben und sich von ihrer ganz eigenen Kraft mitnehmen lassen. Vertrauen
ist oft nicht einfach. Aber es ist die einzige Chance, sich dem Segen zu
öffnen. Nicht nur, aber auch dann, wenn es anders kommt als erhofft. Nicht nur,
aber auch im finstern Tal und danach. Nicht nur, aber auch im Angesicht von Feinden,
vor denen Gott einen Tisch bereitet. Paul Gerhardt lädt dazu ein, zu diesem
Vertrauen.
Musik 2: Befiehl
du deine Wege (feat. Chris Gall)
Sprecherin (overvoice):
Mach
End, o Herr, mach Ende
mit
aller unsrer Not;
stärk
unsre Füß und Hände
und
lass bis in den Tod
uns
allzeit deiner Pflege
und
Treu empfohlen sein,
so
gehen unsre Wege
gewiss
zum Himmel ein.
Autor 10 (overvoice): Ich jedenfalls höre dem Lied
von Paul Gerhardt auch nach vielen Jahrhunderten gerne zu. Es endet mit der
Aussicht auf den Himmel, der unser Verstehen übersteigt und alle unsere Wege
überwölbt. Ich grüße Sie als Ihr Pfarrer Uwe Rieske aus Bonn. Gott segne Ihr
Leben und heute Ihren Sonntag auch.
Schlussmusik: Fortsetzung Musik 2
Redaktion: Landespfarrer Dr. Titus Reinmuth und Pfarrerin
Julia-Rebecca Riedel