„Ehe es geschieht …“ – Unsere Gesellschaft braucht dringend mehr Suizidprävention


„Werde wach und stärke das andere, das sterben will.“ (Offb. 3,2)

Der Bundestag hat im Juli 2023 keine Neuregelung des assistierten Suizids beschlossen. Unabhängig von der weiteren Diskussion einer gesetzlichen Regelung der Suizidassistenz ist aus kirchlicher Perspektive eine Stärkung der Suizidprävention dringend notwendig. Die Evangelische Kirche im Rheinland und die Diakonie Rheinland-Westfalen-Lippe haben vielfältige und langjährige Erfahrungen mit unterschiedlichen Formen der Suizidprävention. Dazu gehören vor allem verschiedene Angebote der Seelsorge. Die Telefon- und Chatseelsorge stellt ein besonders niederschwelliges Angebot dar, das überall in Anspruch genommen werden kann. Wichtig sind auch die spezifischeren Angebote der Kirchen in der Krankenhausseelsorge, der Notfallseelsorge oder – gerade im Blick auf die erhöhte Suizidgefahr von Jugendlichen nach Corona – die Schulseelsorge.

Ein besonders wichtiges Angebot in der letzten Lebensphase sind die kirchlichen Hospize. Ihre Zahl hat sich in den vergangenen Jahrzehnten deutlich erhöht. Es gibt stationäre wie ambulante Dienste, mit einem hohen Einsatz von Ehrenamtlichen. Wer Zuwendung und Gemeinschaft erlebt, kann auch die allerletzte Lebensphase als erfüllte, sinnhafte Lebensphase erfahren. Die Palliativmedizin hat auch für jene Menschen eine große Bedeutung, die irreversibel erkrankt sind. Viele Krankenhäuser, Pflege- und Altenheime haben durch eine professionelle, gut abgestimmte Palliativmedizin ihre Qualität enorm gesteigert.

Aus den unmittelbaren Erfahrungen von Kirche und Diakonie mit betroffenen Menschen lassen sich folgende konkrete Forderungen ableiten, um die Suizidprävention zu stärken:

  1. Gesetz zur Suizidprävention: Die Suizidprävention sollte gesetzlich verankert und finanziell gefördert werden. Noch immer nehmen sich in unserem Land etwa 9000 bis 10.000 Menschen pro Jahr das Leben. Wesentlich höher ist die Zahl der Suizidversuche – und die von Menschen, die der Gedanke daran umtreibt. Jeder erfolgte oder versuchte Suizid hinterlässt zudem im gesamten Umfeld des Betroffenen lebenslange Verletzungen. Das Gesetz zur Stärkung der Suizidprävention muss diesem gesellschaftlichen Problem Rechnung tragen. Todeswünsche sind oft Ausdruck tiefer persönlicher Krisen, auf die es andere Antworten gibt.
  2. Schutz psychisch Erkrankter: Das Risiko, durch Suizid zu sterben, ist bei Menschen mit psychischen Erkrankungen stark erhöht. Im Vergleich zur Allgemeinbevölkerung ist die Wahrscheinlichkeit suizidaler Handlungen bei Menschen mit einer psychiatrischen Diagnose um das Acht- bis Zehnfache höher. Das heißt, dass die Sensibilität für psychisch erkrankte Menschen erhöht werden muss. Deshalb sollten auf regionaler wie kommunaler Ebene Programme entwickelt werden, die zur Enttabuisierung seelischer Notlagen und suizidaler Krisen in Schulen, Betrieben und öffentlichen Verwaltungen, Kirchengemeinden und Vereinen beitragen.
  3. Qualifizierung von Kontaktpersonen: Aus der langjährigen Erfahrung der Suizidprävention wissen wir, wie wichtig die Sensibilisierung und Qualifizierung von Bezugspersonen ist, die Menschen in schweren sozialen Krisen und Übergangssituationen begleiten. Die Qualifizierung sollte für alle beruflich wie ehrenamtlich Beteiligten weiter ausgebaut werden.
  4. Projekte gegen Alterssuizide: Im höheren Alter nimmt das Suizidrisiko signifikant zu; besonders gefährdet sind Männer über 75 Jahren. Nicht alle Alterssuizide stehen im Zusammenhang mit einer schweren psychischen oder körperlichen Erkrankung. Sie werden oft verursacht durch Isolation, fehlende Perspektiven, Verlust von nahestehenden Menschen oder sinnstiftender Arbeit. Einsamkeit im hohen Alter ist ein wesentlicher Risikofaktor und ein großes soziales Problem im Stillen. Hier kann eine gemeinwesenorientierte Altenarbeit, getragen durch die Kommunen, deutlich mehr leisten als bisher. Bei zunehmenden gesundheitlichen Einschränkungen und pflegerischem Unterstützungsbedarf sind eine entsprechende altersangemessene Diagnostik und Therapie unerlässlich, die dem Wunsch des alten Menschen entsprechen.
  5. Prävention von Kinder- und Jugendsuiziden: Suizid ist nach Unfällen die zweithäufigste Todesursache von Kindern ab zehn Jahren und Jugendlichen. Bei Jugendlichen sind Suizide häufiger als im Erwachsenenalter. Geschätzt 90 Prozent der Jugendlichen, die durch Suizid sterben, weisen in der Vorgeschichte eine psychische Störung auf. Suizidprävention muss grundlegende Aufgabe schulischer und außerschulischer Arbeit mit Jugendlichen werden und dabei immer auch Gewaltprävention berücksichtigen, da es hier ursächliche Zusammenhänge geben kann. Informationskampagnen, Kooperation mit Multiplikatoren (Lehrpersonen, Beratungsstellen) und Aufklärung sind erforderlich, aber auch Fortbildungen im Bereich Suizidalität und Depression sowohl in der Kinder- und Jugendmedizin als auch in der Kinder- und Jugendhilfe.

Die Hilfe für Menschen, deren Seele „todbetrübt“ ist, gehört wesentlich zum christlichen Glauben. „Werde wach und stärke das andere, das sterben will.“ (Offb 3,2) Lange Zeit wurden Betroffene und Angehörige jedoch stigmatisiert und alleingelassen. Als Kirche und Diakonie treten wir konsequent dafür ein, dass das in unserer Gesellschaft nicht passiert. Denn: „Niemand nimmt sich gerne das Leben“ – so der Titel einer Handreichung zur Suizidprävention unserer Kirche von 2014 .

  • 4.9.2023