Cancel Culture

Kirche in WDR2 | 16.04.2024 | 00:00 Uhr

Ein Kollege ruft in

die Runde: „Michael Jackson kann man ja auch gar nicht mehr hören!“ Ich frage irritiert

„Warum?“ und krieg‘ als Antwort: „Na, Du weißt schon!“ Sowas nennte man Cancel

Culture. Also über ein Person sagen: Du, deine Musik höre ich nicht mehr,

deine Bücher lese ich nicht mehr, weil du eine Ansicht vertrittst, die Menschen

verletzt.

Der Begriff Cancel

Culture kommt aus den USA: 2014 ist er spaßig gebraucht worden. Wenn man

mit jemandem nichts zu tun haben wollte, dann hat man ihn oder sie gecancelt

– also aus dem Adressbuch gelöscht. Inzwischen ist daraus ein ernster

Begriff und eine Bewegung geworden. Mit grundsätzlich guten Ansichten.

Denn: unterdrückte

oder an den Rand gedrängte Gruppen können durch diese Kultur jemandem von

seinem Sockel zu stoßen – wie es bei uns auch heißt – auf sich und ihre Rechte

aufmerksam machen. Sie können eine breite Öffentlichkeit dazu kriegen, ihre

Argumente zu hören und ins Nachdenken zu kommen. Zum Beispiel über die

Benennung von Straßen nach Menschen mit Migrationshintergrund und politischen

Aktivisten an Stelle der oft noch alten Benennungen nach Generälen der

Weltkriege oder Politiker der Kolonialherrschaft.

Die Cancel

Culture stellt sich gegen beleidigende, diskriminierende, rassistische,

antisemitische, frauenfeindliche und viele andere Inhalte und gibt denen, die

davon betroffen sind eine Stimme. Das ist gut. Trotzdem hab‘ ich das Gefühl, das

immer gleich alles in Frage gestellt wird, was eine Person gemacht hat. Aktuelles

Beispiel? Regisseur Jonathan Glazer hat in seiner Rede bei den diesjährigen

Oskars Israel für den brutalen Terrorangriff der Hamas am 07. Oktober 2023

verantwortlich gemacht. Gleichzeitig hat er mit dem Oskar-prämierten Film „The

Zone of Interest“ einen Film gemacht, der dazu beiträgt, den Holocaust nicht zu

vergessen.

Ich find’s

schwierig zu sagen, diese Person gehört gecancelt – verbannt, vergessen,

gelöscht. Oder: der Film oder die Musik gehen gar nicht mehr. Müssen wir

schnell vergessen. Ich find‘ gleichzeitig unheimlich dumm und unheimlich

klug, was ich von Menschen wie Jonathan Glazer wahrnehme. Aber eines gilt

immer. Sie schenken mir: Denkanstöße. Und das ist – find‘ ich – das Wichtigste

an der Cancel Culture: sich kritisch mit Dingen auseinandersetzen. Also

bitte alles ganz im Sinne der Bibel: nachdenken, das Gute behalten und das

Schlechte: löschen. Aber eben erst: nachdenken.

Redaktion: Landespfarrerin Petra Schulze

https://www.kirche-im-wdr.de/uploads/tx_krrprogram/63807_WDR2240416Riedel.mp3

  • 16.4.2024
  • Julia-Rebecca Riedel
  • © Foto von Markus Winkler auf Unsplash
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