Ein Kollege ruft in
die Runde: „Michael Jackson kann man ja auch gar nicht mehr hören!“ Ich frage irritiert
„Warum?“ und krieg‘ als Antwort: „Na, Du weißt schon!“ Sowas nennte man Cancel
Culture. Also über ein Person sagen: Du, deine Musik höre ich nicht mehr,
deine Bücher lese ich nicht mehr, weil du eine Ansicht vertrittst, die Menschen
verletzt.
Der Begriff Cancel
Culture kommt aus den USA: 2014 ist er spaßig gebraucht worden. Wenn man
mit jemandem nichts zu tun haben wollte, dann hat man ihn oder sie gecancelt
– also aus dem Adressbuch gelöscht. Inzwischen ist daraus ein ernster
Begriff und eine Bewegung geworden. Mit grundsätzlich guten Ansichten.
Denn: unterdrückte
oder an den Rand gedrängte Gruppen können durch diese Kultur jemandem von
seinem Sockel zu stoßen – wie es bei uns auch heißt – auf sich und ihre Rechte
aufmerksam machen. Sie können eine breite Öffentlichkeit dazu kriegen, ihre
Argumente zu hören und ins Nachdenken zu kommen. Zum Beispiel über die
Benennung von Straßen nach Menschen mit Migrationshintergrund und politischen
Aktivisten an Stelle der oft noch alten Benennungen nach Generälen der
Weltkriege oder Politiker der Kolonialherrschaft.
Die Cancel
Culture stellt sich gegen beleidigende, diskriminierende, rassistische,
antisemitische, frauenfeindliche und viele andere Inhalte und gibt denen, die
davon betroffen sind eine Stimme. Das ist gut. Trotzdem hab‘ ich das Gefühl, das
immer gleich alles in Frage gestellt wird, was eine Person gemacht hat. Aktuelles
Beispiel? Regisseur Jonathan Glazer hat in seiner Rede bei den diesjährigen
Oskars Israel für den brutalen Terrorangriff der Hamas am 07. Oktober 2023
verantwortlich gemacht. Gleichzeitig hat er mit dem Oskar-prämierten Film „The
Zone of Interest“ einen Film gemacht, der dazu beiträgt, den Holocaust nicht zu
vergessen.
Ich find’s
schwierig zu sagen, diese Person gehört gecancelt – verbannt, vergessen,
gelöscht. Oder: der Film oder die Musik gehen gar nicht mehr. Müssen wir
schnell vergessen. Ich find‘ gleichzeitig unheimlich dumm und unheimlich
klug, was ich von Menschen wie Jonathan Glazer wahrnehme. Aber eines gilt
immer. Sie schenken mir: Denkanstöße. Und das ist – find‘ ich – das Wichtigste
an der Cancel Culture: sich kritisch mit Dingen auseinandersetzen. Also
bitte alles ganz im Sinne der Bibel: nachdenken, das Gute behalten und das
Schlechte: löschen. Aber eben erst: nachdenken.
Redaktion: Landespfarrerin Petra Schulze
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