Guten Morgen!
Es ist jetzt schon lange her.
Und die Tage, an denen ich dran denke, sind selten. Wie der Arzt sagte, dass
dieser Knoten doch nicht so harmlos sei wie vermutet. Es ist schon grotesk: Kein
Wehwehchen plagt, trotzdem ist auf einmal das Gefühl da, dem Tode nahe zu sein.
Wie gesagt: alles gut gegangen. Glück gehabt. Großartige Ärzte gehabt. Gott?
Weiß nicht. Haben denn die, die sterben, keinen gnädigen Gott?
Klar, hatte ich Angst. Aber ich
will über zwei andere Erfahrungen von damals reden. Die eine: Ich war
unglaublich neidisch. Ich war neidisch auf die glücklichen Kollegen, die ihren
Dienst machen und in langweiligen Sitzungen sitzen durften. Ich war neidisch
auf das glückliche Pärchen im Park, das sich lauthals stritt über irgendeinen
kleinen Mist. Ich war neidisch, neidisch, neidisch. Warum ausgerechnet ich?
Total klischeehaft. Ich weiß, und wusste auch damals: Auf diese
selbstmitleidige Frage, kann es vernünftigerweise nur eine Antwort geben: Warum
nicht? Trotzdem. Sie kam mir ernsthaft in den Sinn. Ich fand es so ungerecht,
dass es mich erwischt hatte.
Und das andere: Zorn.
Zorn über die, die mir mit
dem Krebs ihrer angeheirateten Cousine, ihrer ehemaligen Kollegin oder ihres
übernächsten Nachbarn kamen und von deren Komplikationen oder Therapien
erzählten. Haltet den Mund. Kapiert ihr nicht? Mein Krebs gehört mir.
Zorn auch über alle, die mir
etwa so kamen: Du wirst gewiss in diesem Frühjahr die Schneeglöckchen viel
schöner wahrnehmen und das Leben zu schätzen wissen. Nein, wusste ich nicht.
Und wollte ich nicht. Erst recht nicht, wenn es von mir erwartet wurde. Als
wäre ein Tumor eine spirituelle Erfahrung. Als wäre es automatisch so, dass man
da wieder staunen, beten und glauben lernt. Stimmt nicht. Oder stimmt manchmal
und dann auch wieder das Gegenteil. Dass nämlich alles leer und freudlos ist
und der liebe Gott einem gestohlen bleiben kann.
Zorn am meisten über die, die
Moral versprühten und meinten, dass man sich von der Krankheit veredeln lassen
sollte. „Die Friederike“, so empörte sich bei mir eine Kollegin über jene, die
ich hier Friederike nenne, „die hat auch Krebs gehabt. Aber die hat nichts in
ihrem Leben verändert.“ Ehrlich nicht? Dann ist es ja gut.
Eine meiner besten
Seelsorgerinnen war Brigitte. Sie kam nach resolutem Klopfen ins Krankenzimmer
geschneit, warf mit Schmackes ihr Mitbringsel, eine Tüte Paprikachips, auf die
Bettdecke und schleuderte die gepfefferten Worte hinterher: „Was für eine Scheiße!“.
Und da hatte sie vollkommen recht. Mehr war nicht zu sagen. Aber gut, dass das
mal einer außer mir sagte. Das ist eine echte Grundlage, auf der man weitermachen
kann.
Natürlich verändert eine
gravierende Krankheit das Leben. Sie macht empfindlicher. Und sie macht
unempfindlicher. Sie raubt Vertrauen. Und sie schenkt anderes Vertrauen. Sie
macht weicher. Und sie macht härter. Meine Krankheit damals hat mir nicht Gott
näher gebracht. Aber er, er ist mir öfter nahegekommen – nicht, wenn ich es
wollte, sondern wann er es wollte. Ich bin zuversichtlich, dass er es weiter so
halten wird.
(Ende WDR 4, Verabschiedung
für WDR 3 und WDR 5:)
Einen gesegneten Tag wünscht
Ihnen Pfarrerin Silke Niemeyer aus Münster.
Redaktion: Landespfarrerin Petra
Schulze
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